Kay Andrea Voco
J.Brown feiert Weihnachten...
... obwohl er alleine ist. Ja, er ist allein, von einer traurigen Einsamkeit durchtränkt, daß es ihm die Kehle zudrückt, daß es ihn schwer atmen macht. Aber: Er feiert Weihnachten. Das hat er beschlossen. Beschlossen ist beschlossen.
Er hat sich einen Fichtenbaum gekauft, einen, der schön anzusehen ist, inen, der frisch duftet. Einen großen, für das leere Wohnzimmer. Da hat er schwer zu tragen gehabt. Er hat ihn geschmückt. Ein wenig kitschig. Aber echte Kerzen. Er hat sich ein paar kleine Geschenke gemacht, die hat er in buntes Papier eingewickelt, mit glitzernden Mäschlein versehen und unter den Baum gelegt.
Da stehen sie jetzt also im Wohnzimmer herum, die beiden, J. und der Baum und schweigen eine Weile. "Hallo Baum". sagt J., als die Stille so laut wird, daß die Wand seines Herzens zu beben beginnt. "Hallo Mensch", sagt der Baum. J. erschrickt. Da muß man doch erschrecken. Bäume reden doch nicht. Das gibt's doch nur im Märchen. Und das ist doch kein Märchen. Er muß sich irren, phantasieren, hat Fieber oder ist im Drogenrausch. Wie sonst wäre das hier zu erklären? Doch es drängt ihn, der Sache auf den Grund zu gehen. Zaghaft, leise und bedächtig versucht er es noch einmal: "Hallo Baum", flüstert J. "Hallo Mensch". erwidert der Baum in einem kräftigen, sonoren Tonfall. J. ist aufgeregt, sein Herz pocht wild, in ihm mischen sich Furcht und Freude, Furcht vor dem Unbekannten und Freude darüber, daß er jetzt doch nicht alleine ist, der gute, goldige J. "Du - dududu - dudu - Du kannst ja sprechen", stottottert J. verdutzt. "Ja", entgegnet der Baum: "ich bin halt ein gebildeter Baum, war in der Baumschule." - "Hä?" sagt J. - "Bitte, dieses Wort ist mir nicht geläufig", antwortet der kluge Baum.
"Freust Du Dich, daß ich da bin?", fragt der Baum, und: "Ja", sagt J.: "ja, natürlich." - "Schön", sagt der Baum: "dann freu ich mich auch. Na ja, ein bißchen halt. Schön, daß ich in der Stunde meines Todes nicht alleine bin." - "In der Stunde Deines Todes?", fragt J.: "wie meinst Du das denn?" - "So wie ich's sage", erwidert der Baum: "sieh mich doch an, ich bin schwer verwundet, man hat mir meine Wurzeln amputiert. Darum muß ich bald sterben. Um Dir Gesellschaft zu leisten. Man kann sich's eben nicht immer aussuchen. Also freu ich mich, würd ich mich nicht freuen, wär's auch nicht anders."
"Mensch", sagt der Baum: "weil Du sprichst mit mir, will ich Dir einen Wunsch erfüllen, mein Weihnachtsgeschenk an Dich." - "Na ja", sagt J.: "da muß ich nachdenken; Also: Mein sehnlichster Wunsch ist schon erfüllt, daß ich nicht alleine bin." - "Laß Dir nicht zu lange Zeit", mahnt der Baum: "in einer viertel Stunde ist Heilig Abend, dann ist es zu spät, dann kann ich keinen Wunsch mehr erfüllen."
"Daß Du sprechen kannst", murmelt J., erfüllt von hochachtungsvollem Staunen: "daß es so etwas gibt..." - "Also gut", sagt der Baum: "ich will Dir jetzt die Wahrheit sagen: Das mit der Baumschule hab ich erfunden, hab ich nur gesagt, um Dich ein wenig zu verarschen; Die Wahrheit ist: Du träumst! In Deinem Traum kann ich sprechen und Wünsche erfüllen, in Wahrheit bin ich gar nicht da."
J. raucht einen Joint. Zur Entspannung. Hätten Sie ihm nicht zugetraut, was? Ich auch nicht. Aber das ist ja auch nur ein Traum. In Wahrheit ist er viel zu träge, sich einen Baum oder Geschenke zu kaufen. Er hat beschlossen, Weihnachten möglichst viel zu schlafen, darum hat er sich viel Alkoholika besorgt. Das fällt ihm jetzt wieder ein. "Schlaf", sagt J.: "viel guten Schlaf wünsch ich mir!" - "Bist Du noch richtig in der Birne", entrüstet sich der Baum: "Du wünschst Dir keine paar Milliarden Euro, keine hübschen und willigen Sexualpartner, keinen Weltfrieden oder sonst was tolles? Einfach nur Schlaf?" - "Ja", sagt J.: "weil da spür ich's nicht, daß ich allein bin und zu antriebslos, wo hinzugehen." - "Ach, Du dummer Mensch", ärgert sich der Baum: "den Wunsch kannst Du Dir doch selbst erfüllen! Aber jetzt muß ich es tun!"
J. wird durch das schrille Läuten seines Weckers aus dem Schlaf gerissen. Er setzt sich auf und betrachtet den Schatten auf seiner Bettdecke. Er sinnt über seinen Traum. 'Merkwürdig', denkt er: 'ich habe nie darüber nachgedacht, was ich mir vom Leben wünsche.'
Draußen schneit's. Das ist ein kalter Winter. Einer, der bis ins Herz hinein Eis trägt. Einer, an dem man sich nach Zuflucht sehnt und nach Weihnachtsmärchen und sich heimlich wünscht, es gäbe doch das Christkind.
'In zwei Tagen ist Heilig Abend', denkt J., und beschließt, doch Weihnachten zu feiern. Er geht los und holt sich einen Baum. Einen Fichtenbaum, einen der schön anzusehen ist, einen, der frisch duftet. Einen großen, für das leere Wohnzimmer. Und Geschenke. Und eine Wundertüte. Kindheitserinnerung. Mein Gott, ist der Typ sentimental! Und heimlich wünscht er sich, der Baum könnte doch sprechen...
Aus dem Nichts der inneren Stille meint er plötzlich, ganz, ganz leise eine Stimme zu vernehmen: "Hallo?"
eigentumsdelikt (2)
so innig war unsere beziehung
so langfristig
daß über die zeit
plastiksäcke verotteten
radioaktivität verschwand
und längst begaben lagen
knochen an knochen
zweierlei gebein
verschlungen
ineinander
kunstvoll ward von außen
zweier leid
zum lied geworden
gedanken eines totengräbers
aus fremder einsamkeit
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